K. Huser: Bildungsort, Männerhort, politischer Kampfverein

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Titel
Bildungsort, Männerhort, politischer Kampfverein. Der deutsche Arbeiterverein «Eintracht Zürich» (1840–1916)


Autor(en)
Huser, Karin
Erschienen
Zürich 2012: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
532 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Jürgen Schmidt, Cornelsen Verlag

Die deutsche Arbeiterbewegung entstand in den Jahren des Vormärz im Ausland. Dies geschah zum Teil in einem transnationalen Kontext, etwa wenn Ideen französischer Sozialisten rezipiert wurden oder Organisationsmodelle wie das des Geheimbundes für eigene Organisationsbestrebungen genutzt wurden. Zum anderen waren die im Ausland gegründeten Vereine und Bünde stark national geprägt. Karin Huser stellt in ihrem Buch «Bildungshort, Männerhort, politischer Kampfverein» mit dem deutschen Arbeiterverein «Eintracht Zürich» einen traditionsreichen, ausserhalb der Grenzen des Deutschen Bundes bzw. des Deutschen Kaiserreichs gegründeten Arbeiterverein vor. Neuere Forschungsansätze aufgreifend, nutzt sie einen «kombinierten kultur- und sozialgeschichtlichen Zugriff» (S. 14). Ihre Fragestellung und ihr Frageraster konzentriert sich auf das Organisationsmilieu dieses Vereins und schliesst Fragen nach der sozialen Basis, den ideologischen Richtungen sowie nach den Funktionen des Vereins und Praktiken innerhalb des Vereins ein. Hinzu kommen verflechtungsgeschichtliche Fragen nach der Bedeutung der deutschen Arbeitervereine für die schweizerische Arbeiterbewegung. Der «noch immer taugliche kulturanthropologische Ansatz, den E. P. Thompson mit dem Konzept der ‘Klasse als Kultur’ verfolgt hat» (S. 18), bildet den methodischen Ausgangspunkt. Huser profitiert von einer günstigen Quellenlage und kann mit ihrer Arbeit eine Lücke in der Arbeiter- und Arbeiterbewegungsforschung der Schweiz schliessen.

Das erste Hauptkapitel beschäftigt sich in drei chronologisch gegliederten Abschnitten mit der Organisation, den Ideen und Programmen der deutschen Arbeitervereine in der Schweiz. Es ist der längste Teil und umfasst die Hälfte des Buches. Huser bindet die Entstehungsgeschichte der deutschen Arbeitervereine in die allgemeine Entwicklung des Vereinswesens der ersten Jahrhunderthälfte, in die Geschichte des Gesellenwanderns und in die Geschichte des politischen Exils des Vormärz und der Revolutionszeit 1848/49 ein. Bis in die 1840er Jahre hinein zeigte sich an dem aus einem Gesangverein hervorgegangenen Verein «Eintracht Zürich» die Schwierigkeit, «ein endgültiges Vereinsprofil zu definieren » (S. 49). Allmählich setzte eine Politisierung ein, die sich im Interesse an politischen und sozialen Fragen zeigte. Manchen Mitgliedern ging diese Ausrichtung nicht weit genug, und ein Teil wechselte in die frühkommunistische Bewegung des «Bundes der Gerechten»: «Der Mitgliederverlust an die Kommunisten führte bei der Eintracht zu einer grösseren Krise» (S. 60). Obwohl auch innerhalb der «Eintracht» sich allmählich ein vorsichtiger Schwenk nach links vollzog, blieb sie im Vergleich zu dem unter dem Einfluss Wilhelm Liebknechts revolutionär ausgerichteten Genfer Verein gemässigt.

In die zweite Phase zwischen 1850 und dem Erlass des Sozialistengesetzes im Deutschen Kaiserreich 1878 fällt der Schwenk von einem Arbeiterbildungsverein mit bürgerlich-liberaler Programmatik zu einem an die marxistischen Internationale angelehnten Bewegung. Anschaulich schildert Huser dabei die ideologischen Verrenkungen in diesem Prozess, etwa wenn Gedenkfeiern sowohl für Schiller, Luther, den preussischen General Scharnhorst und Robert Blum abgehalten wurden. Die dritte von Huser beschriebene Phase schliesslich umfasst den Zeitraum zwischen 1878 und dem Ersten Weltkrieg. Während Exil-Sozialdemokraten in der Schweiz «Mitgliedschaften der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands im Ausland» gründeten und als Plattform für die Agitation im Deutschen Kaiserreich nutzten, kam die Politisierung der Basis der «Eintracht» nur schleppend voran. Es bildete sich so eine «Doppelstruktur» heraus. Auf der einen Seite standen die als «übereifrig empfundenen Exilsozialisten» mit ihren «besserwisserischen Theorien», auf der anderen Seite die «schon länger in der Schweiz lebenden Genossen », die an Geselligkeit und Bildung interessiert waren (S. 170f.). Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs verliessen zahlreiche Mitglieder und Führungsfiguren den Verein und kehrten als Kriegsfreiwillige nach Deutschland (oder Österreich) zurück. Exilanten aus Russland, darunter Leo Trotzki, traten dem Verein bei und formulierten eine Antikriegspolitik. Der massive Mitgliederschwund konnte jedoch nicht mehr überwunden werden. 1916 löste sich der Verein auf und fügte sich in die sozialdemokratische Züricher Stadtpartei ein.

Im zweiten Hauptkapitel wendet sich Huser der sozialen Zusammensetzung der «Eintracht Zürich» zu. Wie in den meisten Arbeitervereinen bildeten gelernte Handwerker bzw. Facharbeiter die Basis. Schuhmacher, Schneider, besonders Holzarbeiter, waren stark vertreten. Auch nach der Jahrhundertwende gelang keine Integration von Fabrikarbeitern. Der Anteil der Schweizer kam kaum über 10–12% hinaus. Frauen blieben eine Minderheit.

Im dritten Hauptteil geht die Autorin der Polyfunktionalität des Arbeitervereins nach. Der Verein garantierte Zusammengehörigkeit, Identität, Kommunikation, Integration, Respektabilität, hielt materielle (Speiseassoziation) und kulturelle (Gesang, Bildung usw.) Angebote parat. Es war ein «Ort des Wohlfühlens und des Aufgehobenseins» (S. 309). Gleichzeitig war es ein Ort, in dem Männlichkeit und Männertugenden zelebriert wurden und wo man sich mit der politischen Gleichberechtigung der Frauen schwertat. Immerhin war man – im Gegensatz zu den Grütlivereinen – bereit, Frauen in den Verein aufzunehmen.

Abschliessend wendet sich Huser dem Verhältnis zwischen den Schweizer Genossen und dem Züricher Verein zu. Zunächst werden die Gemeinsamkeiten hinsichtlich sozialer Basis, Organisationsstruktur sowie Polyfunktionalität zwischen der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und dem Grütliverein auf der einen Seite und dem Verein «Eintracht Zürich» auf der anderen Seite beleuchtet. Anschliessend zeigt sie die zahlreichen Konfliktebenen auf. Letztlich fühlten sich die Schweizer durch die ‘Auslandssozialisten’ bevormundet, die sich «in die Rolle der kritischen Opposition» manövriert hatten. Auch wenn es Huser nie so deutlich ausspricht: es prallten unterschiedliche Ideologien und Vorstellungen aufeinander, die sich nicht vereinbaren liessen.

Huser hat auf Grundlage der neueren Literatur zur Geschichte der Arbeiter und Arbeiterbewegung eine überzeugende Überblicksarbeit vorgelegt. Die Abbildungen, zahlreiche Tabellen und grau hinterlegte «Kästen» bieten weitere Informationen. An einigen Stellen wäre sicherlich eine tiefergehende Analyse möglich gewesen. Das Eigene und das Fremde, das sich in dem Mit- und Nebeneinander von deutscher und Schweizer Organisationsbestrebungen durch die ganze Arbeit zieht, hätte noch pointierter dargestellt werden können. Es waren ja vor allem die in die Schweiz eingebürgerten ehemaligen ‘Deutschen’, die sich gegen die Deutschen im Züricher Verein abgrenzten. Auch die Rolle des Staates, der Stadt und des Bürgertums als das Gegenüber, als der gemeinsame Feind, bleibt weitgehend ausgeblendet. Vielleicht waren diese Antagonisten im Schweizer Fall eben gar nicht so sehr der Feind, dass sich von daraus unterschiedliche Perspektiven in der Schweizer Sozialdemokratie und der Basis der «Eintracht» auf der einen Seite und in den Führungskreisen des Züricher Arbeitervereins auf der anderen Seite ergaben. Vielleicht vollzog sich von daher ja auch erst so spät die «Trennung der proletarischen von der bürgerlichen Demokratie», als sich 1917 der Grütliverein von der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz trennte. Diese kritischen Nachfragen schmälern nicht Husers Leistung, sondern zeigen die Möglichkeiten, die sich mit dieser Arbeit verbinden.

Zitierweise:
Jürgen Schmidt: Rezension zu: Karin Huser: Bildungsort, Männerhort, politischer Kampfverein. Der deutsche Arbeiterverein «Eintracht Zürich» (1840–1916). Zürich, Chronos, 2012. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 300-302.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 63 Nr. 2, 2013, S. 300-302.

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